Zunehmend kommen besorgte Eltern zu mir in die Praxis und berichten von umschriebenen Verhaltens- und Lernproblemen ihrer Kinder sowie motorischen Unsicherheiten, die ihre Ursache in sog. persistierenden frühkindlichen Reflexen hätten. Man habe ihnen geraten, mit ihrem Kind zu einem „Reflextherapeuten“ zu gehen, der ihrem Kind Übungen zeige, diese Reflexe wegzutrainieren. Sie fragen mich dann, was ich davon hielte.
Es geht in diesem Artikel nicht darum, die Wirksamkeit einer besonderen Therapiemethode zu be- oder widerlegen, sondern darum, meinem Unwohlsein gegenüber solchen scheinbar einfachen, funktionalen Methoden bzw. Konzepten zu begegnen. Es stellen sich mir zahlreiche Fragen: Wie können wir die Kindesentwicklung betrachten? Welche Theorien und Modelle gibt es dazu? Gibt es einen Unterschied zwischen Reifung und Entwicklung? Wo finden in diesem Rahmen (herkömmliche) Therapien ihren Platz?
Frühkindliche motorische Automatismen, Reaktionen bzw. Reflexe
Reflexe laufen unwillkürlich, automatisch und, stereotyp als physiologische Reaktion eines Erfolgsorgans auf einen adäquaten Reiz ab. Michaelis und Niemann [10] unterscheiden:
Ob und welche Bedeutung ein Persistieren dieser Automatismen für die normale bzw. abnormale Entwicklung hat, ist bislang nicht geklärt und wird kontrovers diskutiert. Doch wie „verschwinden“ diese frühkindlichen Automatismen? Um sich einer Antwort zu nähern, ist es hilfreich, verschiedene Entwicklungstheorien zu betrachten.
Hierarchisch-deterministisches Entwicklungsmodell
In einem hierarchisch-deterministischen Entwicklungsmodell, das u. a. auf den Forschungsarbeiten Anfang und Mitte des letzten Jahrhunderts von Sherrington, Magnus Praxis und Gesell fußt [12], geht man davon aus, dass Reflexe, die auf der Ebene Rückenmark, Hirnstamm und Rautenhirn organisiert werden, von höheren Hirnzentren kontrolliert und inhibiert werden. Sherrington [12] forschte an dezerebrierten Versuchstieren. So gelang es ihm, sich der störenden Einflüsse durch die Spontanmotorik zu entziehen.
Umso mehr erstaunt es, dass bis heute in vielen Entwicklungsmodellen und somit diagnostischen und therapeutischen Modellen die Reflexe eine so bedeutende Rolle spielen und als ein Indikator für Hirnfunktion bzw. Entwicklungsbeurteilung dienen. Dies geschehe mit zunehmender Ausreifung bzw. Myelinisierung der Nervenbahnen bzw. des ZNS. Demzufolge wird die frühkindliche Entwicklung als strenger Ablauf vorgegebener hierarchisch festgelegter Entwicklungsstufen („Meilensteine“) betrachtet, die in einem bestimmten Zeitfenster und einer bestimmten Reihenfolge (z. B. Drehen – Robben – Krabbeln – Sitzen – Stehen – Laufen) erreicht werden sollten. Die hierarchisch-deterministische Entwicklungstheorie lässt dabei keinen Raum für variable, adaptive und individuelle Entwicklungsprozesse.
Zudem fällt auf, dass die Begriffe Reifung und Entwicklung häufig gleichgesetzt werden. Ihre Unterscheidung ist laut Michaelis und Niemann [10] durchaus sinnvoll: „Reifungsprozesse sind genetisch determiniert und in ihrem zeitlichen und funktionellen Verlauf weitgehend festgelegt. Organe und Sinnessysteme reifen bis zu ihrer Funktionsaufnahme, [sofern sie nicht] durch externe oder interne Faktoren und in ihrer Funktion gestört oder weitgehend verhindert werden.“ Reife Funktionen bleiben, sofern sie nicht geschädigt werden, lebenslang erhalten und sind nicht adaptionsfähig. Entwicklung hingegen „ist eine adaptive Antwort auf bestimmte ökologische und soziale Lebensbedingungen durch Erfahrung und Lernen. Entwicklungsprozesse verlaufen lebenslang mit hoher individueller Variabilität, denn: Entwicklung kennt kein Alter.“ Somit könnte man bei der hierarchisch-deterministischen Entwicklungstheorie von einer „Reifungstheorie“ sprechen.
Inzwischen hat innerhalb der Neurowissenschaften ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Das Nervensystem wird nicht mehr als passives Organ betrachtet, das nur durch sensorische Stimulierung aus der Umwelt hin aktiv wird (Reiz-Reaktion). Neuere Modelle beschreiben die Entwicklung als individuell, variabel und adaptiv.
General Movements
Die Forschungen von Prechtl et al. [5] konnten zeigen, dass das Nervensystem ein primär aktives, Spontanaktivität generierendes Organ ist. Mittels Ultraschalluntersuchungen konnten diese frühe embryonale Bewegungen beobachten. Sie beginnen ab der 7./8. Woche postmenstruell intrauterin mit Seitwärtsneigen des Kopfes, gehen in der 9./10. Woche postmenstruell über in General Movements und Startles. Sie enden als Fidgety-Movements in den ersten 6 Lebensmonaten mit der zunehmenden Dominanz der intentionalen und gegen die Schwerkraft gerichteten Bewegung.
Diese General Movements sind komplex, flüssig, koordiniert, variabel und beziehen den ganzen Körper mit ein. Sie treten periodisch und episodisch auf, endogen generiert, d. h. ohne externen Stimulus. Zudem haben sie charakteristische Merkmale, sodass sie eine qualitative und quantitative Beurteilung der spontanen intraund frühen extrauterinen Motorik erlauben und es ermöglichen, hochsignifikante Aussagen über die spätere motorische Entwicklung zu machen, besonders im Hinblick auf die Entstehung spastischer und dyskinetischer Zerebralparesen [10].
Neuere Modelle
Diese beschreiben eine dynamisch-systemische oder auch individuell-variable Entwicklung [10]. Man kann Entwicklung nicht verstehen, ohne externe und interne Einflüsse, die auf das Individuum einwirken, zu berücksichtigen. Dynamisch-systemische Ansätze beschreiben die Wechselwirkung bzw. Interaktion des Individuums mit seiner Innenwelt und Umwelt (kulturell, sozial, materiell, ökologisch). Sie leugnen das Vorliegen von Reflexen bzw. Automatismen nicht, allerdings werden sie lediglich als eine von vielen Strategien angesehen, Haltung und Bewegung zu organisieren. Das Gehirn wird als selbstorganisierendes und adaptives System betrachtet, das ohne eine starre Hierarchie aufgebaut ist. Die verschiedenen Ebenen beeinflussen sich gegenseitig.
Das Prinzip der Selbstorganisation ist das fundamentale Prinzip aller dynamischen, biologischen Systeme. Selbstorganisation bedeutet Anpassungsfähigkeit, sich ökonomisch auf neue Situationen einstellen zu können. Dies setzt die Fähigkeit zur Variabilität voraus. Die Selbstorganisation in Variabilität äußert sich in einer angepassten motorischen Reaktion. Alles ist Bewegung bzw. Verhalten. Als Grundlage dafür muss sich die motorische bzw. posturale Kontrolle entwickeln.
Motorische und posturale Kontrolle
Motorische Kontrolle ist die Fähigkeit, Mechanismen, die für Bewegung wichtig sind, zu organisieren und regulieren. Sie besitzt sowohl periphere als auch zentrale Merkmale. Bewegung entsteht aus der Interaktion des Individuums und der Umgebung [12] mit dem Ziel, die Beziehung zur Umwelt zu optimieren. Die motorische Kon- trolle beinhaltet die posturale Kontrolle (Kopf-, Rumpf-, Haltungskontrolle). Die Entwicklung der posturalen Kontrolle ist ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung von geschickten, koordinierten Fähigkeiten.
Die posturale bzw. motorische Kontrolle entsteht aus einem Zusammenspiel vieler Faktoren:
▪ Intention, Motivation, Aufmerksamkeit, Emotion
▪ innere Einflüsse: Atmung, Herzschlag
▪ äußere Einflüsse, Umweltbedingungen
▪ Bewegungssystem: Gelenkbeweglichkeit, muskuläre Eigenschaften, biomechanische Beziehungen der Körpersegmente
zueinander
▪ Bewegungskontrolle: motorische Vorgänge inklusive neuromuskulärer Synergien
▪ sensorische Vorgänge (visuell, vestibulär, somatosensorisch), integrative Prozesse
Fazit
Ich finde es erstaunlich, dass trotz des Paradigmenwechsels nach wie vor neue, neurophysiologischeTherapiemethoden „auf dem Markt“ etablieren, die sich immer noch auf ein hierarchisch-deterministisches Entwicklungsmodell beziehen. Zu diesen zählen u. a. die vom Institut für Neurophysiologische Psychologie, die Rotationstherapie (ROTATherapie) und die von der Pädagogischen Praxis. Damit gesellen sie sich zu den alten Methoden (z. B. Bobath, Vojta, sensorische Integrationstherapie nach Ayres, Doman-Delacato). Meines Wissens hat lediglich im Bobath-Konzept ein Umdenken und damit eine Anpassung der Therapie an den Paradigmenwechsel stattgefunden. So schreibt Blythe [4]: „Frühkindliche Reflexe sind automatische, stereotype Bewegungen, die vom Gehirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden. Die Bewegungen, die auf Grund der Reflextätigkeit ausgeführt werden, unterstützen die Myelinisierung der Nervenbahnen des Gehirns auf ganz ähnliche Weise, wie das Straßennetz eines Landes ausgebaut wird.“ Von den genannten Therapiemethoden wird postuliert, dass, wenn der Abbau der reflexgesteuerten Bewegung nicht gelinge, die Basis für jedweden darauffolgenden Entwicklungsschritt gestört sei und somit jede aktive Bewegung von Unreife gekennzeichnet sei. Dies äußere sich in zahlreichen Symptomen: schlechte Haltung, Unruhe, Aggressivität, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Tollpatschigkeit, Schlafstörungen, feinmotorische Ungeschicklichkeit, Artikulationsschwächen, okulomotorische Probleme, Gedächtnis-, Aufmerksam keitsprobleme, Antriebslosigkeit, Gleichgewichtsprobleme, Dyskalkulie und Legasthenie, um nur einige zu nennen. Ein langer Katalog. Mal ehrlich: Finden wir uns da nicht selbst wieder?
Wie sollte also eine Therapieform aussehen, die den Anforderungen moderner Erkenntnisse der Neurowissenschaften entspricht? Zu allererst halte ich es für unabdingbar, dass wir die angebotenen Therapien und deren zugrunde liegenden Theorien gründlich überprüfen.
Ausgehend davon, dass nicht variable Entwicklungsverläufe als pathologisch zu erachten sind [10], d. h. dass mangelnde Anpassungsmöglichkeiten bei sich verändernden Umweltbedingungen bei einem Kind zu beobachten sind, könnte z. B. als therapeutisches Prinzip „Störung“ eingesetzt werden. Eine Störung führt zu einem Chaos und zwingt das System in der Folge zu einer Umoder Neuorganisation im Sinne einer Anpassung und damit zu einem neuen dynamischen Gleichgewicht (Ökonomie als Prinzip sich selbst erhaltender biologischer Systeme). Dabei gilt es unbedingt zu beachten, dass die Störung (des Gewohnten) für das Kind zu bewältigen ist. Die Aufgaben an das Kind müssen an seine Motivation bzw. Intention gebunden und zielorientiert sein. Die Umgebung, in der das Kind seine „Übungen“ macht, sollte sich verändern, sodass Variabilität gefordert wird. Erst durch ausgiebiges Explorieren und Ausprobieren entwickeln sich Handlungsstrategien.
Mulder [11] sagt dazu: „Lernen und Anwendung müssen aufeinander bezogen sein. Eine fehlende Kopplung zwischen Lernen und Anwendung führt immer zu Problemen.“ In diesem Sinne könnte man z. B. bei einem Kind im Krabbelalter den Raum so gestalten, dass es, um ein von ihmbegehrtes (!) Spielzeug zu erreichen, Hindernisse in Form von Polstern, Kissen, Luftmatratze o. ä. überwinden muss. Dies zwingt das Kind, automatisierte Bewegungsabläufe umzuorganisieren. Wir kennen Ähnliches, wenn wir einen Stein im Schuh haben. Erst stört er, dann – falls wir ihn nicht entfernen – passt sich der Fuß dem Stein so an, dass er für uns kaum oder nicht mehr spürbar ist. Erst wenn der Stein verrutscht, bemerken wir ihn wieder und das Spiel beginnt von Neuem.
Wo finden wir Osteopathen in diesem Entwicklungskonzept unseren Raum? Was können wir tun? Meines Erachtens haben wir durch unsere Behandlung Einfluss auf die Plastizität des Gehirns und können dadurch die Entwicklung unterstützen. Außerdem zielt unsere Behandlung auf eine Stärkung der eigenen bzw. selbstregulatorischen Kräfte ab. Unser Fokus sollte dabei auch darauf liegen, dass die Entwicklung höchst individuell ist, wir uns nicht an Normen festhalten sollten. Es geht darum, dass das Kind das eigene Potenzial entwickelt und zu dem werden kann, was es ist, und nicht, was es sein soll.
Über die Autorin
Annette Watrin ist Heilpraktikerin, Osteopathin und Physiotherapeutin. Sie hat als Bobath- und SI-Therapeutin von 2000–2013 in eigener Praxis, eng verwoben im Institut für Neuro- und Sozialpädiatrie Hamburg-Ost (ehemaliges Institut Kneisner) in einem interdisziplinären Team gearbeitet.
Artikel Veröffentlichung
Watrin A. Persistierende frühkindliche Reflexe DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2017; 15: 23–26
Literatur
[1] Ayres J. Bausteine der kindlichen Entwicklung. 2. Aufl. Berlin: Springer; 1992
[2] Bader-Johansson C. Motorik und Interaktion. Stuttgart: Thieme; 2000
[3] Biewald F. Das Bobath-Konzept. München: Elsevier; 2004
[4] Blythe SG. Greifen und Begreifen. 11. Aufl. Kirchzarten: VAK; 2016
[5] Einspieler C et al. Prechtlʼs Method on the Qualitative Assessment of General Movements in Preterm, Term and Young Infants. London: Mac Keith; 2004
[6] Flehmig I. Normale Entwicklung des Säuglings und ihre Abweichungen.Aufl. Stuttgart: Thieme; 1987
[7] Heinen F, Bartens W. Das Kind und die Spastik. Bern: Hans Huber; 2001
[8] Hüter-Becker A. Das neue Denkmodell in der Physiotherapie. Band 2: Bewegungsentwicklung Bewegungskontrolle. Stuttgart: Thieme; 2005
[9] Maturana H, Varela F. Der Baum der Erkenntnis. 6. Aufl. Frankfurt: Fischer Taschenbuchverlag; 2015
[10] Michaelis R, Niemann G. Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie.Aufl. Stuttgart: Thieme; 2010
[11] Mulder T. Das adaptive Gehirn. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007
[12] Shumway-Cook A, Woollacott M. Motor Control. 4. Aufl. Baltimore: Wolter Kluwer/Lippincott Williams & Wilkins; 2012
[13] Suchodelitz W von. Früherkennung von Entwicklungsstörungen. Göttingen: Hogrefe; 2005
[14] Viebrock H, Forst B. Bobath. Stuttgart: Thieme; 2008
[15] Vojta V, Schweizer E. Die Entdeckung der idealen Motorik. München: Pflaum; 2009
[16] www.neuropaediatrie.com Bibliografie DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0043-101238 DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2017; 15: 23–26 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1610-5044